„Über Jahre hinweg hatte ich das Gefühl, dass ich mit meinem Problem allein bin“

– Menschen im Mittelpunkt: Afra Brummer im Interview –

In diesem Interview werden psychische Erkrankungen wie Depressionen und selbstverletzendes Verhalten thematisiert. 

Solltest du selbst Hilfe benötigen, wende dich an eine vertraute Person oder direkt an unsere Schulpsychologin Frau Weigand. Ebenso findest du Hilfeseiten, Hilfestellen und Telefonnummern unter dem QR-Code auf den „Du bist nicht allein“ – Plakaten auf den Toiletten oder im Klassenzimmer.

Liebe Afra, wir freuen uns sehr, dass du heute bei uns bist und wir mit dir ein Interview zu unserem neuen Format Menschen im Mittelpunkt führen dürfen.

Magst du dich einmal kurz zu deiner Person vorstellen und warum du eigentlich heute hier bist? 

Name: Afra Brummer

Alter: 17

ehemalige Schülerin

Hobbys: Häkeln, Lesen und Ski fahren

Warum bei uns: „um mehr Relevanz und Achtsamkeit für mentale Gesundheit zu schaffen“

Lebensmotto (Spruch/Zitat, der dich beschreibt oder dir Mut macht): “Alles wird gut“

Kannst du uns einen stichpunktartigen Überblick geben, wie sich deine psychische Erkrankung geäußert hat?

  • Depression: Antriebslosigkeit, Veränderung von Schlaf und Appetit, Interessensverlust, Selbstisolation
  • Panikattacken: Zittern der Arme/Beine/des ganzen Körpers, schnellere Atmung, (oft) nicht ansprechbar, Herzrasen, fehlendes klares Denken, (manchmal) taube Extremitäten
  • Zwangsgedanken: unangenehme Gedanken, die sich einem aufdrängen und man nicht haben möchte
  • Halluzinationen: Geräusche, die man hört, oder Dinge, die man sieht, die jedoch nicht wirklich da sind“

Wann hast du das erste Mal gemerkt, dass etwas in dir vorgeht? Und wie hat sich das geäußert? 

„Das war ungefähr mit 11 Jahren und mit dem Gedanken, nicht mehr hier sein zu wollen. Das war Anfang 2020, noch bevor Corona angefangen hat. Erstmal in unregelmäßigen Abständen und auch von unregelmäßiger Dauer kamen schwere depressive Episoden, wo ich gar nichts mehr geschafft habe. Später kamen dann noch die Panikattacken und Halluzinationen dazu.“

Woher wusstest du, dass es dir mental eher weniger gut ging? 

„Ich wusste, dass es nicht normal ist, dass man mit 11 Jahren nicht weiterleben möchte, weil man den Schmerz dieser Belastung nicht mehr aushält. Über Jahre hinweg hatte ich das Gefühl, dass ich mit dem Problem allein bin. Bis ich mich mal mit jemandem unterhalten habe, der diese Phasen, in denen es einem schlecht ging – auch kannte.“

Weißt du, was ein Auslöser bei dir gewesen sein könnte? 

„Ich würde es nicht direkt Auslöser nennen, denn Auslöser sind immer kleine Situationen, z. B. für eine Panikattacke. Auslöser für schwer depressive Episoden nennt man dann eher Hintergrund. Die Hintergründe waren, dass es Zuhause, in der Schule notentechnisch und im Freundeskreis nicht rund lief und damit sind dann die Stützpunkte im Leben Stück für Stück weggebrochen. Und irgendwann wurde das leider immer größer, ich hatte das Gefühl, mit niemandem darüber reden zu können.“

Wie lange hat es gedauert, bis du dich einer Person öffnen konntest? Gab es ein Schlüsselereignis, das dazu geführt hat? 

„Ja, tatsächlich. Das war auf der Halloween Party eines Freundes. Da habe ich das erste Mal, und auch nur mit einem Freund, darüber gesprochen, da dieser eine Panikattacke von mir miterlebt hat.“

Wie ging es danach weiter?

„Nach der Party habe ich es einer Freundin erzählt, die aufgrund des häufigen Kontakts zu eben genanntem Freund stutzig geworden ist. Ungefähr zwei Monate später habe ich mit einer Lehrerin darüber gesprochen und knapp einen Monat darauf bin ich das erste Mal in die Klinik gekommen.“

Psychiatrische Kliniken werden in Filmen oft überdramatisiert dargestellt, gibt es etwas, was du nicht bestätigen kannst, auch in Hinblick darauf, Betroffenen die Angst davor zu nehmen? 

„Ja, ich habe es mir damals auch schlimmer vorgestellt. Grundsätzlich möchte ich erstmal das Vorurteil nehmen, dass da alle verrückt sind. Das stimmt nicht. Dort sind ganz normale Menschen mit Problemen, die viele Menschen haben. Das sind nicht alles Psycho- oder Soziopathen, da läuft jetzt keiner, überspitzt gesagt, mit einem Messer herum. Selbst auf der geschlossenen Station, in welcher man sehr eingeschränkt ist, hat man doch auch Freiheiten, wie feste Besuchszeiten. Oder generell so viel Freiraum, dass man sich mit Mitpatienten beschäftigten kann. Auf der offenen Station geht man regelmäßig nach draußen und unternimmt Gruppenaktivitäten. Das ist wie eine WG, nur mit viel Therapie und vielen Personen, denen es ähnlich geht wie dir.“

Nun hast du die Situation vor Ort selbst miterlebt. Was sollte deiner Meinung nach an unserem Gesundheitssystem dringend verändert werden? Wo gibt es noch Aufholbedarf?

„Definitiv immer noch bei den bestehenden Vorurteilen über psychische Erkrankungen, Therapien usw. Das Problem ist, dass wir zu wenig Psychologen und Psychiater haben und es zu wenig ambulante sowie stationäre Therapieplätze gibt. Ich finde, wir brauchen mehr therapeutische Einrichtungen, damit Betroffenen zeitnah und ohne großen Fahraufwand geholfen werden kann. Vor allem durch Corona ist die Anzahl der psychisch erkrankten Kinder und Jugendlichen stark angestiegen. Im Sommer sind durch schöne Urlaube alle Stationen wie leergefegt, aber sonst sind die Wartelisten lang und die Psychiatrien voll.“

Welchen Einfluss hatte die Schule auf dich und was würdest du dir im Nachhinein wünschen, vor allem im Hinblick auf die Unterstützung, das Hilfsangebot oder präventiven Maßnahmen? 

„Ich finde, dem Thema sollte mehr Aufmerksamkeit geschenkt und das Bewusstsein dafür gestärkt werden. Denn je besser die Lehrkräfte fortgebildet und die Schüler aufgeklärt sind, desto eher kann bei Bedarf auch geholfen werden.“

Nun sehe ich einem Menschen mit einem gebrochenen Bein sofort an, dass dieser Schwierigkeiten beim Laufen hat. Das kann ich bei mentalen Problemen nicht. Gibt es dennoch Anzeichen, auf die man achten kann? Würdest du aus deinen Erfahrungen sagen können, dass man dir etwas hätte anmerken können, oder kann das nur das geschulte Auge?

„Das ist natürlich von Person zu Person unterschiedlich. Manche zeigen etwas, andere nicht. Bei Menschen mit suizidalen Gedanken kann es mögliche Anzeichen geben. Sie verschenken z. B. Dinge, die ihnen wichtig sind. Auch auf ihre Zukunft legen sie wenig Wert, weil die in ihren Augen an Bedeutung verliert. Manche verabschieden sich intensiver, andere isolieren sich selbst, haben hohe Fehlzeiten in der Schule oder gehen ihren Hobbys nicht mehr nach.“

Wie kann man Betroffene unterstützen? 

„Die Voraussetzung dafür ist zunächst immer, dass man sich die Hilfe auch zutraut. Dann kann man die betroffene Person ansprechen, das aber nur unter 4 Augen. Sucht euch dafür ein ruhiges Umfeld und einen entspannten Zeitpunkt, um zu fragen, ob alles in Ordnung ist, weil euch vielleicht etwas aufgefallen ist. Gebt der Person dabei das Gefühl, dass sie mit ihren Problemen nicht allein ist. Sie soll spüren, dass es immer hilft, über Probleme zu sprechen, anstatt Ängste und Sorgen in sich „reinzufressen“.“

Oftmals ist der Weg zur Erkenntnis, Hilfe einzufordern, einer der herausforderndsten Schritte auf dem Weg der Genesung. Was können erste Schritte sein um sich selbst zu überwinden? 

„Die allermeisten Menschen, die psychisch krank sind, haben das Gefühl, dass sie nicht „krank genug“ sind und die Hilfe nicht verdienen, gerade weil es zu wenig Therapieplätze gibt. Wenn man das auf körperliche Krankheiten, wie das vorherige Beispiel mit dem gebrochenen Bein, übertragen würde, geht man aber ja auch zum Arzt, obwohl man weiß, dass die Notaufnahmen voll sind oder es jemand anderem schlechter geht, weil er z.B. zwei gebrochene Beine hat. Also wenn man weiß, dass man Hilfe braucht, sollte man diese annehmen, denn krank ist krank. Und sich das bewusst zu machen, ist schon wertvoll.“

Welche Vorurteile oder Stigmata stehen nach wie vor häufig im Raum und wie kann man dagegen vorgehen? Bzw. fallen dir welche ein, die du aus dem Weg räumen kannst?

„Die sind alle verrückt“ oder „die bilden sich das alle nur ein“. Oder auch dass das alles „nur Kopfsache“ ist. Natürlich ist das nur Kopfsache, sonst wären sie ja physisch und nicht psychisch krank. Aber auch hier: 

  • „alle, die sich selbst verletzen, haben Borderline“: Nein, das kann man so nicht sagen. Borderline ist eine Persönlichkeitsstörung, die wesentlich seltener vorkommt als selbstverletzendes Verhalten.
  • „das Handy/die sozialen Medien sind schuld“: Ja, heutzutage haben die sozialen Medien einen großen Einfluss auf uns, aber ein Handy verursacht keine psychischen Erkrankungen.
  • „du musst nur mehr in die Sonne/an die frische Luft gehen“: Vitamin D, welches wir hauptsächlich über die Sonne aufnehmen, hat tatsächlich eine Auswirkung auf unseren Gemütszustand. Psychische Erkrankungen sind allerdings kein Gemütszustand, sondern eine Erkrankung, die nicht durch Vitaminmangel verursacht wird.
  • „alle mit Depressionen tragen nur schwarze Kleidung“: Nein, einfach nein…der Kleidungsstil steht nicht in Relation zu psychischen Erkrankungen.
  • „alle mit Essstörung essen nichts, übergeben sich und sind untergewichtig“: Essstörungen sind ein breites Spektrum, da gibt es nicht nur diese drei typischen (Anorexie, Bulimie und Binge-Eating), sondern ganz viele unterschiedliche, die auch bei jeder Person anders ausfallen. Eine Essstörung ist dabei keine Gewichtsstörung – sie ist vielmehr eine Verhaltensstörung, bei der die ständige gedankliche und emotionale Beschäftigung mit dem Thema „Essen“ eine zentrale Rolle spielt.“ 

Magst du etwas zur Arbeit mit Therapeuten erzählen? Wie läuft denn so eine Sitzung ab, wie kann man sich das vorstellen? 

„Am Anfang geht es meist darum, wie es dir aktuell geht und welche Beschwerden im Vordergrund stehen. Dann entwickelt man Strategien, wie man mit seinen Problemen besser umgehen oder gegen sie ankämpfen kann. Das wird dann vertieft und zum Schluss zieht man oft ein persönliches Fazit, was man denn aus der Stunde mitgenommen hat. Die einzelnen Sitzungen laufen immer anders ab, ich hatte noch nie zwei, die gleich waren.“

Was kann unsere Gesellschaft tun, oder was ist generell notwendig, um eine größere Akzeptanz gegenüber Menschen mit psychischen Erkrankungen zu schaffen? 

„Man sollte mehr sensibilisieren, wie viele Menschen damit ein Problem haben, weil das oft totgeschwiegen wird. Man kann sich hier mal die Prozentzahlen anschauen, da wird einem bewusst, dass psychische Auffälligkeiten häufiger auftreten und dass die meisten Hilfe brauchen. Und natürlich einfach, darüber zu reden.“

Was würdest du retrospektiv deinem jüngeren Ich raten oder sagen? Was hättest du anders gemacht, vielleicht auch in Hinblick auf Leser und Leserinnen, die in einer ähnlichen Situation sind?

„Ich würde meinem jüngeren Ich sagen, dass man an allem arbeiten kann und dass es sich lohnen wird. Außerdem, dass ich mit meinen Problemen nicht allein bin und dass irgendwann alles gut werden wird. Und ich würde mir raten, mir früher Hilfe zu suchen. Es gibt so viele Betroffene, das ist wirklich keine Seltenheit mehr und es gibt so viele Menschen, die einem helfen können und wollen. Falls man auf seinem Weg mit Vorurteilen konfrontiert wird: nicht unterkriegen lassen, sondern sich nochmal jemand anderem anvertrauen und beispielsweise an vertraute Erwachsene (z.B. Lehrkräfte, Eltern, Großeltern) wenden.“

Was wünscht du dir für deine nächsten 5 bis 10 Jahre? 

„Dass ich irgendwann an den Punkt komme, dass ich sagen kann, dass ich mein Leben mag. Einfach wieder stabil im Leben zu stehen.“

Möchtest du uns zum Schluss noch etwas mitgeben?

„Auch wenn es mir manchmal schwerfällt: nie die Hoffnung verlieren. Selbst wenn die Therapie erst in einem Jahr anfängt, sie kann viel lösen. Man kann an vielem Arbeiten. Nichts ist im Leben vorprogrammiert und warum dann nicht das Leben genießen?“

Final question: Wenn du ein Lied aussuchen müsstest, welches passt da zu dir?

„Ich glaube, das wäre das Lied „Klana Indiana“ von Pizzera und Jaus“.

-> Hört doch mal bei Spotify rein: https://open.spotify.com/track/4psFx47I5JINPZScXb8koc?si=S87xTHOXRyiAjEKuT-PZ9A

Vielen Dank für das Interview und deine Zeit, Afra!